Bahnreisen trotz Handicap

2. Teil unserer Serie "Mobil trotz Handicap"

von Bernhard Veith und Pascal Schöpflin


Rund 7,6 Millionen Deutsche sind schwerbehindert oder gebrechlich. Tendenz: Steigend. Doch es gibt kein Grund sich zu verstecken. Dank einiger EU-Regelungen sind Zugreisen europaweit viel einfacher und komfortabler geworden. Dieser Bericht gibt einen Überblick und will Betroffenen Mut machen, sich seine Reisewünsche zu Weihnachten oder später zu erfüllen.


Wer in den letzten  Jahren auf der „Internationalen Tourismus-Börse“ (ITB) in Berlin war, konnte den Trend leicht erkennen. Es gibt Reisebüros, die Gruppenreisen für Behinderte in Deutschland und ganz Europa anbieten, sowie Hotels die sich nur auf dieses Klientel spezialisiert haben. Aber nicht nur Gruppenreisen sind im Kommen.

„Individualreisen für diese Zielgruppe sind auch für uns zunehmend ein Thema“, berichtet Annika Wehrle vom spanischen Fremdenverkehrsbüro und spricht auch für andere staatlichen Verkehrsbüros.

Allerdings sollten „Individualreisende“ mit Handicap ihre Reise ins Ausland intensiv vorbereiten, denn es gibt einige Vergünstigungen, die das Reisen erheblich erleichtern. Doch wer ist die Zielgruppe, wer gilt als „Mensch mit Handicap?“


„Personen mit eingeschränkter Mobilität“

Die Europäische Union hat dies mit der  „EU Richtlinie 1.300/2014“ klar definiert, an die sich die meisten Bahnverwaltungen auch ausserhalb der EU (mehr oder weniger) halten:

Als „Person mit Handicap“ gilt man mit

•einem Schwerbehindertenausweis (GdB mind.70%).

•einer zusätzlichen Marke für kostenlosen Nahverkehr.

•dem Vermerk B* für eine Begleitperson/Begleithund,

•dem Vermerk a.G* (z. B. Rollstuhlfahrer)

•dem Vermerk BL* (Blinde mit Begleithund/Person)

•dem Vermerk H* (völlige Hilsflosigkeit)

*= Die Begleitpersonen reisen kostenlos mit


Das A und O: Die Reisevorbereitungen

Neben den üblichen Reisevorbereitungen, empfiehlt sich ein Merkzettel den man in der Brieftasche oder Brustbeutel verstaut. Dort sollten die jeweiligen Besonderheiten berücksichtigt werden, denn gerade im Ausland empfiehlt es sich Krankheits- und Medikamentenpässe mitzunehmen. Nicht vergessen: Auch die Katze und die Blumen zuhause wollen versorgt sein.


Individualreisen mit der Bahn - geht das?

Fahrpläne in Kursbücher studieren, ist passe.` Alle Bahnen haben heute neben Internetportale auch spezielle Seiten und Rufnummern für Personen mit Handicap eingestellt. Dies macht Sinn, wenn man eine Reise durch Deutschland oder ins Ausland plant und eine Begleitperson –oder Begleithund dabei haben muss. Es wird daher dringend empfohlen Fahrscheine und Reservierungen entweder telefonisch bei der Mobilitätszentrale (via Kartenzahlung, Tickets werden dann per Mail zugeschickt) oder am Schalter zu kaufen, denn nur so erhält man die individuelle kostenlose Reservierungen, bzw. uneingeschränkte DB-Freifahrt für die Begleitperson. Dort kann man auch noch den kostenlosen Begleit-Service reservieren, der Behinderte bis zum reservierten Wagen und sogar zum Sitz begleitet. In größeren Bahnhöfen stehen Caddys und Hublifte bereit, die sogar Rollstühle in den Zug bringen können. In den ICE Zügen, der neuesten Generation gibt es diesen Hublift bereits im Zug.  Auch in den neuen IC2 (Doppelstock)- Zügen, die zwischen Stuttgart-Konstanz/Zürich  fahren, sowie in den renovierten weiß-gelben IRE-Zügen der Baureihe 612 in Baden-Württemberg, sind Hublifte bzw. Rampen eingebaut. Allerdings kämpft man derzeit noch mit Kinderkrankheiten. Bei beiden Zugstypen sind behindertengerechte Toiletten vorhanden. Es wäre falsch verstandene Freiheit heutzutage "spontan" in einem Zug zu steigen, denn die Mobilitätszentrale kann sogar noch 15 Minuten vor Abfahrt einen Platz reservieren oder eine Begleitperson stellen. Kenner fahren daher nie ohne ausführliche Planung und Reservierungen.


Bahnreisen in Europa

Wer ins europäische Ausland fahren möchte, dem stehen in den meisten großen Bahnhöfen ähnliche Serviceleistungen wie in Deutschland zur Verfügung. Für diese Fahrt ist aber ein „Nullticket“ für die Begleitperson vorgeschrieben, welches man aber bei der DB problemlos erhalten kann.

Laut EU-Leitlinien sollte dieses Nullticket europaweit gelten. Die einzelnen Bahnverwaltungen haben neuerdings aber  wieder Einschränkungen eingeführt. Tatsächlich gilt diese Regelung jetzt nur noch für Blinde, die eine Begleitung benötigen. Bei anderen Behinderungen bei denen eine Begleitung dringend erforderlich ist, sieht es anders aus. „Das ist unverständlich und ist nicht im Sinne der EU,“ sagt der Verkehrsexperte Michael Cramer MdEP (Grüne), ehemaliger Vorsitzender des Ausschusses für Verkehr und Tourismus (TRAN) der EU auf Anfrage unserer Zeitung, der damit eine Abstufung der unterschiedlichen Behinderungen erkennt, was lt. EU-Richtlinie genau nicht der Fall sein soll. Für andere Behinderte kann ein Begleiter nur dann auf Auslandsreisen unentgeltlich mitreisen, wenn Start-oder Zielort in Deutschland  das „Nullticket“ ausgestellt wurde. De facto gilt dies nur in ein Nachbarland, nicht  aber für Fahrten innerhalb dieser Länder, sowie andere Länder die nicht an Deutschland grenzen. In der Praxis aber sind Schaffner gerade im Grenzverkehr zu Deutschland kulant. „Ein Kontrolleur im TGV sah mein Schwerbehindertenausweis und fragte mich ob ich eine Sonnenbrille dabei hätte, was ich bejahte. In seinen Augen war ich dann „blind“, und mein Begleiter durfte auch in Frankreich kostenlos mitfahren,“ erzählt ein Schwerbehinderter. Doch auf solche „Kulanz“ sollte man nicht immer vertrauen, denn einige Zugbegleiter empfinden die Regelungen zurecht als komplizert. Wir haben aber auch die Erfahrung gemacht, dass man  in Ländern wie Norwegen oder Schweden nur unter Vorweis des Schwerbehinderten-Passes  ermässigt reisen kann und auch seine Begleitung mitnehmen kann. Selbst in Spanien und Portugal ist dies der Fall. Was die EU mit den zunehmend nationalistischen Gremien nicht mehr schafft, praktizieren die Zugbegleiter schon lange. Es ist zu hoffen, dass die europüische Bevölkerung wieder mehr europäisch denkt und auch wählt. gerade Behinderte sollen niemals vergessen, wie im nationalischen Deutschland mit ihnen umgegangen wurde.

Auch wenn es anders gehandhabt wird, hier noch die gültigen Regelungen.

Hier fährt ein Begleiter (Begleithund) kostenlos mit

Rollstuhlfahrer und sonstige Behinderte

•Dänische Staatsbahnen (DSB)

•Eisenbahngesellschaft Slowakei (ZSSK)

•Luxemburgische Staatsbahn (CFL)

•Nationale Gesellschaft der belgischen Eisenbahnen (SNCB/NMBS,)

•Niederländische Eisenbahnen (NS, Nederlandse Spoorwegen)

•Österreichische Bundesbahnen (ÖBB)**

•Schweizerische Bundesbahnen (SBB)**

•Tschechische Bahnen (CD, Ceské dráhy)

•**Incl. Privatbahnen mit SCIC-NRT-Tarif

Wichtig: Abfahrtsort oder Zielort muss in Deutschland sein


Hier fährt ein Begleiter kostenlos mit

Blinde mit dem Vermerk B, BL oder BN

•Attica Attica Group S.A. (Superfast Ferries – Blue Star Ferries)

•BDZ Bulgarische Eisenbahnen

•CD Tschechische Bahnen

•CFL Luxemburgische Eisenbahnen

•CFR Calatori Rumänische Eisenbahnen

•OSE Griechische Eisenbahnen

•CIE Irische Eisenbahnen

•CP Portugiesische Eisenbahnen

•DSB Dänische Staatsbahnen

•HZ Kroatische Eisenbahnen

•MAV/GYSEV Ungarische Staatsbahnen**

•MZ Transport Mazedonische Eisenbahnen Transport

•NS Niederländische Eisenbahnen

•ÖBB Österreichische Bundesbahnen **

•PKP Intercity Polnische Staatsbahnen

•RENFE Spanische Eisenbahnen /AVE Alta Velocidat Espania

•SBB/CFF Schweizerische Bundesbahnen**

•SNCB/NMBS Belgische Eisenbahnen

•SNCF Französische Eisenbahnen

•SZ Slowenische Staatsbahnen

•StL Stena Line – Hoek van Holland – Harwich

•SV Serbische Eisenbahn

•FS (Ferro dello Stato - Tren Italia) Italienische Staatsbahnen

•ZCG Eisenbahnen Montenegros

•ZSSK Slowakische Bahnen

•**Incl. Privatbahnen mit SCIC-NRT-Tarif

Wichtig: Es empfiehlt sich im jeweiligen Land sich zu informieren



Moderner Treffpunkt: der moderne Bahnhof

Die meisten europäischen Bahnverwaltungen präsentieren sich heute als moderne und zeitgemäße Anbieter. Dementsprechend erinnern die großen europäische Bahnhöfe eher an Flughäfen. Viele Geschäftsketten sorgen nicht nur für das leibliche Wohl während der Fahrt, sondern auch für Ersatz falls man etwas vergessen hat.

Nahezu jeder Bahnhof besitzt moderne und komfortable Hygienestationen, mit speziellen Behindertentoilette, die allerdings unterschiedlicher Qualität sind. Hier empfiehlt es sich vor der Reise einen „Euro-Key“ zu besorgen. Auch hier ist der Schwerbehindertenausweis notwendig.

Die Bahnsteige sind europaweit größtenteils barrierefrei zugänglich, solange es sich um Bahnhöfe in größeren Städten mit S-Bahnsystemen handelt. In der Fläche kann es aber böse Überraschungen geben. Dennoch scheint sich dies in Deutschland seit der Ampel-Regierung einiges zu verbessern. Ueberall wird umgebaut und neu gebaut, auch wenn das oft nicht wahr genommen wird. Hier empfiehlt es sich vorher bei der Mobilitätszentrale zu informieren.


Besser als ihr Ruf – Euro-City-(Express) Züge (EC bzw ECE)

Die europäischen Euro City-Qualitätszüge die in Deutschland beginnen oder enden, sind meist mit Behindertenabteil oder Rollstuhlsitze ausgestattet, und entsprechen den EU-Richtlinien. Dies betrifft insbesondere die neuen ECE Züge von Italien/Schweiz nach Frankfurt/(ab 2024Hamburg-Kiel) oder München mit neuen komfortalen Giruno-Zügen, die zu den Besten der Welt gehören und stufenlos rollbar sind. Ebenfalls für handicapgeeignet ist der TGV nach Paris und Südfrankreich, oder der Railjet nach Österreich und Italien und viele andere mehr. In diesen modernen klimatisierten Zügen, wie zB. beim ÖBB-Railjet befinden sich die Universaltoilette und Handicap-Bereiche immer in der ersten Klasse. Wer nachts mit dem Zug fahren will, dem bietet die ÖBB weiterhin Nachtzüge in den Relationen Zürich/Basel- Berlin/Hamburg, Wien- München-Hamburg, München-Budapest Liegewagen-Abteile für Personen mit Handicap an. Die Buchung gestaltet sich aber schwierig, denn oft ist der Zug über das DB-System nicht mehr buchbar. Es empfiehlt sich dann, das Buchungssystem der ÖBB zu nutzen, auch wenn das System nur auch den österreichischen  Behindertenpass kennt. Die Kontrolleure kennen aber das Problem. „Klicken Sie einfach den ÖBB-Behindertenpass an und dann passts.!“. Neuerdings bietet auch der private Flixtrain von Stuttgart nach Berlin und von Lörrach nach Hamburg (nicht täglich) vergünstigte Reisen für Behinderte (Begleiter kostenlos) an.

Wer ins europäische Ausland fliegen will und erst dort mit dem Zug fahren will, findet z.B. in Frankreich, Italien, Portugal, Spanien, Polen und Türkei (bei manchen Verbindungen) sehr bequeme Züge vor. Für viele überraschend sei da die spanische Bahn AVE zu nennen, welches nicht nur die schnellsten fahrplanmässige Züge Europas, sondern auch das zweitgrößte Hochgeschwindigkeitsnetz der Welt besitzt. Die meisten Züge dort sind Talgo-Züge wie sie ab 2024 nach Deutschland ab ICE L kommen und sind sufenlos rollbar.


Bahnfahren ausserhalb Europas



Es gibt auch ausserhalb Europas sehr bequeme und barrierefreie Züge.  Die Züge in den USA (Kalifornien und Ostküste), Japan, China, und Süd Korea sind bekannt dafür. Behinderte gläubige Moslems können ihre religiöse Pflicht jetzt leichter erfüllen, denn Mekka kann man von Deutschland jetzt auch mit Flugzeug und Bahn ab Medina mit dem neuen „Al-Haramin-Express“ erreichen. Er ist zur Zeit der schnellste (v/max. 380 km/h) und luxuriöseste Zug für Behinderte (Bild: der Al Haramin-Express ).

Von Berlin aus fuhr lange Zeit der „Stritzh-Talgo“ nach Moskau und  wies ebenfalls eine hervorragende Qualität auf. Hier kann man sich über die teils erheblichen Ermässigungen erfreuen. Ob der Zug aber jemals wieder nach Deutschland kommt ist unwahrscheinlich, auch sei der Zug durch den Krieg in einem verwahrlosten Zustand, obwohl er erst 2018 in Dienst gestellt wurde.


In den meisten Osteuropäischen Ländern kann auch sufenlos eingestiegen werden, sofern Talgo-Züge vorhanden sind (Bild: Talgo in Kasastan). Auch Afrika hat neuerdings einen Hochgeschwindigkeitszug. Zwischen Casablanca und Tanger verkehrt der französische TGV-Zug mit 320 km/h. Alle hier genannten Züge besitzen die bewährte Qualität, wie sie von Europa bekannt ist.




Fazit:

Insgesamt gesehen kann eine Bahnreise auch für Menschen mit Behinderung weltweit erfolgen und sehr genussvoll sein. Eine  sehr gute Vorbereitung ist allerdings ein „Muss“. Wer die Nachweise besitzt, sollte auf eine Begleitperson nicht verzichten. Dies vereinfacht das Reisen erheblich. Einer Reise zu den Kindern, Freunden, Verwandten oder für einen Kurzurlaub steht dann nichts im Wege, wenn die gesundheitlichen und medizinischen Voraussetzungen gegeben sind. Dieser Artikel wurde am 4.12. 2018 im Südkurier, Augsburger Allgemeine, Sächsische Zeitung und Süddeutsche Zeitung. Für diese Website wurde der Bericht aber aktualisiert. Stand: 1.1.2023allerdings ohne Bilder veröffentlicht,denursprünglichen Artikel finden sie hier.





















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